Hana gegen Bi

Zehn Thesen zu einer neuen Theorie der Welt

Hana gegen Bi  

Zehn Thesen zu einer neuen Theorie der Welt     

 

 

These 1  

Der Menschheit ganzer Jammer wurzelt in dem Grundwiderspruch der conditio humana: dem Widerspruch von gemeinsamem Sein und einsamem Bewußtsein. Wie Bienen und Ameisen können wir nur existieren im arbeitsteiligen Kollektiv, aber wir denken und fühlen wie solitäre Großkatzen.    

  

 

These 2  

Der Widerspruch von kollektivem Sein und individuellem Bewußtsein spiegelt sich in den zwei großen Menschheitsideen Gerechtigkeit und Freiheit: Gerechtigkeit und Freiheit können sich nur gegeneinander verwirklichen.

   

Gerechtigkeit ist das Telos der Gemeinschaft und vereinigt alle ethischen und moralischen Postulate wie Solidarität, Verantwortung, Selbstlosigkeit, Hilfs- und Opferbereitschaft, Mitgefühl, Barmherzigkeit usw. Gerechtigkeit verlangt Unterschiedslosigkeit vor dem Gesetz, in der Würde, im Recht auf Teilhabe, Schutz und Freude; nach Sühne für begangenes und Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht. Jeder glaubt zuwissen, was Gerechtigkeit bedeutet.

Freiheit dagegen ist nur negativ definiert: als Abwesenheit von Unfreiheit. Aber Unfreiheit - durch Gefangenschaft, Abhängigkeit, Erniedrigung, Unterdrückung - steht im Widerspruch zu Menschenrechten und Menschenwürde und ist mithin eine Kategorie der Gerechtigkeit. Die negativ definierte Freiheit - als Abwesenheit von Unfreiheit - ist also auch eine Kategorie der Gerechtigkeit.

Die positiv bestimmte, allein dem eigenen Willen unterworfene (Wahl-)Freiheit dagegen ist umschreibbar als die ideale Option des Einzelwesens. Ihm verspricht sie Erlösung aus dem Kokon seiner Träume, Entkommen aus jeder Art von Zwang, Konditionierung und Begrenztheit, Aufsprengung aller Fesseln seines geistigen, sinnlichen, emotionalen Verlangens und grenzenlose Selbstverwirklichung. Diese personale Freiheit bleibt eine vage Verheißung und eine Phantasie (Kant: "Leidenschaft zur Freiheit"), die nur partiell und vor allem nur individuell, gegen alle anderen, verwirklicht werden kann - also im Gegensatz zu dem nur im Kollektiv sinnvollen Kampf gegen Unfreiheit nicht im Sinne, sondern auf Kosten der Gerechtigkeit.

Denn der Freiheitsuchende fordert mehr für sich selbst, als ihm in der Gemeinschaft zusteht. Er nimmt sich seine Freiheit in Portionen und Portiönchen: mehr Spielsachen, mehr Spielraum, mehr Einfluß auf die Spielregeln. Für dieses Mehr benötigt er die Akkumulation von Freiheitspotential = Macht, zutreffend auch Vermögen genannt. Der Königsweg zur Macht ist dreispurig: Gewalt, Betrug, Ausbeutung. Es ist gleichgültig, ob der Freiheitsuchende als Tellerwäscher oder als Millionär handelt, als Warlord oder als Unternehmer, in Nadelstreifen oder Arbeitsklamotten. Es ist ebenso gleichgültig, ob er sein Mehr als Einzelkämpfer zu erringen sucht oder als Teilhaber einer meist männerbündischen Allianz: Fast immer müssen andere etwas für sein Mehr hergeben - ihre Arbeitskraft, ihre Gesundheit, ihren Besitz. Jeder Zugewinn an personaler Freiheit ist ein Eingriff in den Status quo der sozialen Äquität und entzieht der Gesellschaft ein entsprechendes Quantum Gerechtigkeit.

Die Freiheit der wenigen ist immer die Unfreiheit der vielen.

Der Versuch, den Willen zur Freiheit im Sinne der Kantschen Autonomie in moralische Haftung zu nehmen, verkrüppelt den wilden Vogel Greif zum Suppenhuhn. Denn Ethik und Moral stehen auf der Gegenseite, der Seite der Gerechtigkeit. Der Wille zur eigenen Freiheit ist vollkommen amoralisch.

Freiheit meint immer den einzelnen, Gerechtigkeit meint immer das Ganze. Freiheit sucht Vorteil auf eigenes Risiko, Gerechtigkeit sucht Sicherheit im Gesetz. Freiheit ist unteilbar, Gerechtigkeit ist nichts anderes als Teilung. Gerechtigkeit kennt keine Alternative, Freiheit basiert auf Alternativen (die Künste zum Beispiel sind ganz und ausschließlich Geschöpfe der Freiheit). In der Freiheitsidee zeigt sich das dynamische, offensive, männliche Agens, in der Idee der Gerechtigkeit das konsolidierende, integrative, weibliche. (Für US-Amerikaner: Die Freiheit ist ein Tea-Party-Republikaner, die Gerechtigkeit eine linke Demokratin.)

Freiheit und Gerechtigkeit sind gegeneinander konvertibel, aber wie Feuer und Eis nicht mischbar und nicht addierbar. Damit erledigen sich auch alle Konvergenzphantasien zwischen den Ideologien Kapitalismus und Kommunismus. Die Polarität von Freiheit und Gerechtigkeit bleibt unaufhebbar.

Beide Ideale finden ihre Grenzen in sich selbst: Vollkommene Gerechtigkeit ist nur als Gleichheit vorstellbar. Gleichheit jedoch ist zutiefst lebensfeindlich, denn alles Lebendige reproduziert sich allein in den Bedingungen der Ungleichheit, des Asymmetrischen, des Unterscheidbaren. Gerechtigkeit basiert also nicht auf Gleichheit, sondern auf geschwisterlichem Gleichmaß (fraternite=egalité).

Richtig muß es daher heißen: Alle Menschen sind ungleich. Deshalb besitzen alle Menschen die gleichen Rechte, die gleiche Würde und den gleichen Wert.  

Totale Freiheit andrerseits würde das intensivste Glück ausschließen, das Menschen erfahren können: das Gefühl zu lieben. Wer liebt, ist unfrei.  

Freiheit gegen Gerechtigkeit - alles politische Geschehen, alle Geschichte verhandelt diesen Antagonismus als den Grundwiderspruch der conditio humana: individuelles Bewußtsein gegen kollektives Sein.

Es leuchtet unmittelbar ein, daß der Widerspruch nur auf einem Weg auflösbar ist: durch das Erwachen eines gemeinsamen Bewußtseins.

 

 

These 3  

Darwins Evolutionstheorie - ziellose 'natural selection by survival of the fittest' - ist unvollständig: Die Entwicklungsgeschichte allen terrestrischen Lebens ist zielgerichtet auf das Erwachen eines gemeinsamen Bewußtseins. 

 

Obwohl Darwins Vordenker Herbert Spencer in seinem 'System der synthetischen Philosophie' mit dem Entwicklungsgesetz gleichzeitig ablaufender Differenzierungs- und Integrationsprozesse schon auf der richtigen Spur war, hat bisher niemand den entscheidenden letzten Schritt zu denken gewagt. Wartet am Ende dieses Weges die Auflösung des isolierten ICH durch die Erkenntnis, das auch die Individualität unseres Bewußtseins nur geliehen ist?

Die biologische Evolution einer Art kommt an der Spitze der Nahrungskette langsam zum Stillstand. Wir Menschen stehen zwar erst seit kurzer Zeit, aber vermutlich endgültig dort. Alles Lebendige hat sein unendlich komplexes Gewebe in milliardentiefen Jahreszyklen geboren. Deshalb führt jeder Versuch, die Entwicklung der Menschheit zu einem gemeinsamen Bewußtsein auf biologisch verkürztem Weg - durch gentechnologische Manipulation - zu beschleunigen, zur Katastrophe, in den Alptraum.

Der Evolution ist es gleichgültig, ob wir auf biologisch-genetischem oder technologisch-artifiziellem Weg zu einem gemeinsamen Bewußtsein finden. Unser Bewußtsein ist eingesperrt in den Sturzhelm des Schädels wie in eine Raumkapsel. Müssen also fremde Gefühle in unsere Amygdala eingescannt oder vorprogrammierte Memristoren-Chips in den Neocortex gepflanzt werden? Soll unsere Fähigkeit zur echothymischen Einfühlung in die lebende Außenwelt durch eine ins Gehirn transplantierte Spiegelneuronen-Platine, unser Verstand durch Implementierung designter Algorithmen optimiert werden? Könnten die testosterongeschädigten Männer mit Hilfe einer pharmakologisch induzierten Modifikation die Defizite in ihrer sozialen Intelligenz kompensieren? Und dann folgt die quantenphysikalische Vernetzung in den labyrinthischen Verästelungen der zerebralen Nanowelt mit den Bausteinen eines neuen, allen zugänglichen Bewußtseins?

Dort wartet der andere Alptraum - die technologische Apokalypse.  

Wie kann dann jemals ein gemeinsames Bewußtsein entstehen?

Wir müssen die geistig-intellektuelle ebenso wie die seelisch-empathische Evolution unseres Bewußtseins abschließen und zu einem einzigen Ziel zusammenführen.

Auch ein gemeinsames Bewußtsein beginnt in seiner zentralen Dynamis: dem Intellekt. Eben da hat es bereits begonnen, vor dreihundert Jahren, entwicklungsgeschichtlich vor Sekunden. Im Age of Enlightenment, siècle des lumières, dem Jahrhundert der Aufklärung, erfaßte das menschliche Denken das geistig-intellektuelle Ziel: die Vernunft. Dieses Ziel war schon zweitausend Jahre früher in Hellas aufgeleuchtet, um dann wieder durch den Siegeszug dogmatischer Irrationalismen verdunkelt zu werden. Und bis heute ist der Satz von Jürgen Habermas: "Alle Motive außer dem der kooperativen Wahrheitssuche sind ausgeschlossen" noch eine ferne Utopie.

Ausgerechnet um die Stunde Null, als die Vernunft wieder im Schlaf versank, nannte ein junger Wanderprediger aus der römischen Provinz Judea auch das seelisch-empathische Ziel: die bedingungslose Liebe zu jedem, auch zum fernsten (fremdesten) Menschen. Mit der Liebe ist das so eine Sache. Wir sagen heute: bedingungslose Solidarität.

Bedingungslose Solidarität mit dem fremdesten Menschen? Es war immer die Aufgabe und die Leistung von Avantgardes, unser Bewußtsein zu entwickeln und zu erweitern: Schon heute opfern hunderttausende von Vorkämpfern in und außerhalb tausender von Hilfsorganisationen ihre Energie, ihre Zeit, manchmal ihr Leben fernsten Menschen, die sie gar nicht kennen.

Doch erst wenn beide, Vernunft und bedingungslose Solidarität, unser Bewußtsein gleichermaßen bestimmen, kann der 'global mind' entstehen: Ein Mit=Fühlen, an dem alles Denkende teil hat: ein sensus communis im wörtlichen, ein Con=Sense im fundamentalen Sinne. Der Widerspruch von Freiheit und Gerechtigkeit löst sich auf.     

 

 

These 4  

Wenn alles Lebendige auf der Erde der evolutionären Zielsetzung eines gemeinsamen Bewußtseins unterworfen ist, muß man von der Morphogenese eines einzigen Wesens sprechen. 

 

Dieses Wesen ist vor rund vier Milliarden Jahren auf der Erde gezeugt worden - auf welche Weise wissen wir noch nicht. Ein mystischer Schöpfungsakt war nicht notwendig: Die kosmische Zeit war reif, um auf diesem Planeten die Bedingungen für komplexe organische Molekülketten zu schaffen. Das Wesen ist aus erratischen Anfängen langsam herangewachsen, hat durch Photosynthese Sauerstoff erzeugt, mittels Ozon einen Schutzschirm gegen tödliche Strahlung aufgespannt und hält inzwischen wie eine Schlingpflanze die ganze Erde umfangen. Es ist daher von annähernd hohlkugelförmiger Gestalt und besitzt ungefähr die Ausdehnung der Erdoberfläche - rund eine halbe Billiarde Quadratmeter, teils ober-, teils unterhalb des Meeresspiegels; seine Hauptmasse bewegt sich rund um die Höhe Null. An den Stellen seiner größten Ausbauchung nach unten oder oben besitzt es eine Dicke von wenigen tausend Metern. Es ist also in Beziehung zur Erde, um die herum es wächst, sehr dünn und großflächig, fast wie eine Haut oder wie ein unregelmäßig geknüpftes, teils sehr weitmaschiges, teils überaus feines, in allen Farben schillerndes, in allen Tönen summendes, in allen Gerüchen dünstendes Gewirk, Gewebe, Gespinst aus einer unendlichen Mannigfaltigkeit von Einzelorganismen, die alle miteinander verbunden sind, ob sie nun nahezu gewichtslos oder tonnenschwer, klein wie Mikroben oder groß wie ein Blauwal sein mögen.

Ein Wesen, das ständig auf sich selbst herumkaut, seine Substanz verschlingt, verdaut, ausscheidet und neu wiederherstellt? Mehr Gespenst als Gespinst?

Jede unserer rund 30 Billionen Zellen ist ein eigener, hoch=komplex strukturierter Organismus. Und auch in unserem Körper toben immerfort Selbsterhaltungskämpfe, wird ununterbrochen gestorben und geboren. Achtzig Prozent unserer Substanz gehören fremden Zwergen, kaum zwanzig Prozent sind gewissermaßen 'wir selbst'. Ein wildes Schlachtfeld vieler gegen viele in wechselnden Allianzen, obwohl wir doch einem genetischen Programm unterworfen sind, einem präzisen Bauplan, während das hohlkugelförmige Wesen nichts dergleichen zu besitzen scheint. Dennoch gilt auch für dieses Geschöpf dasselbe ontogenetische Prinzip: Werden in zugleich extensiver wie intensiver Entwicklung, auf ein Ziel gerichtet, aber vorerst ohne Zielbewußtsein.

Nach Abschluß der Phase seiner histologischen und zytologischen Strukturierung, die durch Teilungs-, Differenzierungs- und Wachstumsvorgänge gekennzeichnet ist, folgt es, wie jeder noch unfertige höhere Organismus, drei Maßgaben: Gestalt bilden! Neuronen vernetzen! Zum Bewußtsein erwachen! Wie dieses Wesen am Ende aussehen wird, wissen wir nicht. Die embryonalen Phasen hat es jedenfalls längst hinter sich. Deshalb sollte es im Folgenden einen Namen tragen: Hana ist das japanische Wort für Blume und symbolisiert das Leben.  

 

 

These 5  

La vida es sueno: In unserem Denken träumt Hana. In Hanas Träumen denken wir. 

 

Die Schlafforschung hat festgestellt, daß sich die Hirnaktivität im Tiefschlaf kaum verringert, lediglich die Kommunikation zwischen den einzelnen Bereichen ist lahm gelegt. Daraus wird gefolgert, daß unser waches Bewußtsein erst durch das Zusammenwirken verschiedener zerebraler Areale bei der Informationsverarbeitung entsteht, im internen Dialog gewissermaßen. Das Gehirn ist kein monolithisches, designtes Einzelnes, sondern ein sich selbst organisierendes System, eine evolutionär entstandene Pluralität lebendiger Einheiten, die jeweils auf ganz unterschiedliche Arbeitsbereiche spezialisiert sind, sich ständig miteinander austauschen und so unser Denken herstellen - unsere Gedanken machen. In wachem Zustand herrscht hier ein Betrieb wie in einem Internet-Chatroom. In dieser Analogie wäre das Bewußtsein eine Art zentraler Rechner, der aktuelle Meldungen aus Hirn und Körper verarbeitet und auf seinem Display abbildet; er aktiviert sich erst, wenn wir aufwachen. Im Schlaf ruht das ganze System in einem Standby-ähnlichen Modus, und der Bildschirm bleibt schwarz oder zeigt nur das Flackern zusammenhangloser Einzelmeldungen, die nicht miteinander verschaltet sind. So erklärt sich auch das Bruchstückhafte alles Träumens, das vorlogisch Absurde, das Insistierende, Repetetive, der Tunnelblick.

In Platos Höhlengleichnis ist es nicht eine Welt des Traums, sondern eine Welt der Schatten, die wir mit der Wirklichkeit verwechseln. Es ist gleichgültig, in welches Bild wir unser Unvermögen kleiden, Wirklichkeit zu erkennen. Die Höhle, in der wir gefesselt liegen, ist unser eigenes enges Bewußtsein. Erst wenn wir diesem Gefängnis entkommen, werden wir sehen und verstehen.

Doch noch immer schwebt unsere schlafende Hana in der Gefahr zu sterben. Asteroiden- und Kometeneinschläge, Bevölkerungsexplosion und Resourcenvernichtung, nuklearer Overkill, außer Kontrolle geratene künstliche Intelligenz, - viele Monster geistern durch Hanas Träume.

Zugleich träufeln Ideologien und Indoktrionologen ohne Unterlaß Schlafmittel in Hanas Blutkreislauf. Erst wenn wir gelernt haben, das Wissenwollen über das Glaubenwollen zu stellen, kann Hana zum Bewußtsein erwachen.

Wir schieben im Kreis ,Walzerrhythmus, in einer Dreh- und Schwenkbewegung mit mörderischen Fliehkräften: In der Mitte werden zierlich die Füße gesetzt, zu den Rändern hin wird alles verwirbelt, zu Boden geschleudert, zerquetscht, zertreten, zertrampelt. Wir sind schlafwandelnde Traumtänzer. Der Tanzboden ist vollerBlut.

 

 

These 6  

Die Interdependenz alles Lebendigen wird immer deutlicher zur Interdependenz allen Bewußtseins.

  

Hanas zerebral-neuronale Vernetzung hat mit der Entwicklung der humanen Gesellschaft und ihrer Organisationsformen von der engsten zur umfassendsten Einheit eben erst begonnen: Von Sippe, Horde, Clan über Volk und Nation zu supranationalen, Kulturen und Kontinente übergreifenden Institutionen und Bewegungen, deren Einfluß anschaulich größer wird.

Die gesamte sogenannte Zivilisationsgeschichte - von den ersten, Gebirge und Meer querenden Handelswegen bis hin zur Globalisierung der Märkte und Produktionsketten; vom seit jeher anschwellenden Zustrom in die städtischen Ballungsräume bis zur ständig wachsenden Tourismusindustrie; von der Erfindung des Buchdrucks bis hin zu unseren digitalisierten Netzwerken personaler Mitteilungen - zeigt ein einziges ameisenhaftes Aufeinanderzu=Krabbeln, ein Zueinander=Denken mit ununterbrochen schnatterndem und zwitscherndem Austauschen, Ergänzen, Korrigieren von Nachrichten, Entdeckungen, Erkenntnissen. In der Computersprache wird dieses Zuordnen von Bruchstücken Defragmentierung genannt. Im Jargon der Politiker: Es wächst zusammen, was zusammen gehört. Wer diesen alle menschliche Entwicklung prägenden, sich rasant beschleunigenden Integrations- und Bewußtwerdungsprozess nicht erkennt, muß eben weiter für sein Recht auf einen dreistelligen I.Q. demonstrieren gehen.

Die Basis dieser Entwicklung ist die Akkumulation von Wissen und seine Verarbeitung durch Kommunikation. Das Fundament, auf dem diese Basis ruht, ist in unserem genetischen Programm verankert: In unserem zellentiefen Drang, unsere Erfahrungen weiterzugeben - sie zu kopieren, zu differenzieren und zu integrieren. Das Antlitz der jungen Menschheit ist zerfurcht von Runen und Glyphen, Ziffern und Zeichen.

Das Wissen um die Interdependenz alles Lebendigen wird immer deutlicher zur Interdependenz allen Bewußtseins. Die größte Bedrohung der Menschheit und des irdischen Lebens ist die Gefahr, daß die kollektive Intelligenz trotzdem nicht schnell genug wächst. Die Akkumulation von Wissen ist tödlich, wenn die Erkenntnisse eben nicht kollektiv verarbeitet und gesteuert werden.

Denn die Entwicklung eines gemeinsamen Bewußtsein wird durch infektiöse Exazerbationen und Zusammenbrüche immer wieder aufgehalten und zurückgeworfen. Mit der Volksgemeinschaft ging es unlängst im Stiefelknallen von Sturmabteilung und Schutzstaffel zurück zum Point Sero, zur Riesenrotte. Heute erleben wir in den aufklärungsfernen Zonen Gewaltexzesse, Bürgermassaker, ganze Armeen atavistischer Kulturschänder und Menschenschlächter. Krieg und Mord, Folter und Vergewaltigung werden uns noch lange begleiten. Aggression, Machttrieb und Gier sind Elementarkräfte aus dem Maschinenraum des Lebens, die von Vernunft und Solidarität durch frühkindliche Konditionierung gezähmt und umgelenkt werden müssen. Wir sind gewohnt, in Zeiträumen von wenigen Generationen zu denken. Hier geht es jedoch um das letzte Ziel der terrestrischen Evolution - wir werden viele Tausende von Generationen für diese Transformationen brauchen.   

 

 

These 7  

Das Prinzip des Lebens - Kopieren / Differenzieren / Integrieren - ist das Gegenprinzip zur Entropie: Gleichmachen durch Zertrümmern. 

 

Alles Seiende hat sein Gegensein in allem, woran es nicht teil hat. Ein Sein ohne Gegensein ist transitorisch und zerfällt.

Dieser fundamentale Dualismus allen Seins spiegelt sich in den komplementären Polaritäten unseres Denkens, als eine Art kognitiver Stereoskopie innerhalb der Ränder unserer Erfahrung: gut - schlecht; richtig - falsch; Freund - Feind; eßbar - nicht eßbar; Quark - Antiquark. In der  Formulierung von Joseph  Beuys: Ja ja ja ja! Nein nein nein nein!

Wenn Leben das ist, was Sinn herstellt, dem die Idee der Sinnhaftigkeit (Ordnung) innewohnt, ist das Gegensein des Lebens die Entropie.

Physiker haben beobachtet, daß Wärme immer nur in absteigender Richtung, vom wärmeren zum kälteren Körper fließt, nie umgekehrt. Wärme fassen sie als ungeordnete Bewegung der Atome auf. Sie haben zudem festgestellt, daß bei allen Zustandsänderungen eine Tendenz zur möglichst gleichmäßigen, also ungeordneten Verteilung besteht - einfach deshalb, weil diese Verteilung die wahrscheinlichste ist. Jede andere, in irgendeiner Weise zuordnende Verteilung ist unwahrscheinlicher und kann deshalb nur vorübergehend sein. Aus diesen einander bestätigenden Gesetzmäßigkeiten wird gefolgert, daß alle Zustandsänderungen im Universum eine nicht umkehrbare Richtung besitzen: Alle Energie verwandelt sich in Wärme, alle Ordnung in Unordnung. Am Ende allen Geschehens hat sich die gesamte Energie/Masse in gleichmäßig laue Wärme gewandelt, und die unendliche Vielfalt in sich geordneter Zustände hat sich in einen einzigen Zustand gleichmäßig verteilter Unordnung aufgelöst: nicht mehr teilbare Elementarteilchen kreisen im lauwarmen Nichts. Was danach geschieht, weiß niemand.

Die Umwandlung aller Energie in Wärme und aller Ordnung in Unordnung - genauer: Maß und Richtung dieser Umwandlung - wird als Entropie bezeichnet. Der Begriff Entropie steht damit für das Gesetz von der Nichtumkehrbarkeit eines Vorgangs.

Das Gegensein zur irreversiblen Auslöschung aller Ordnung, zum sinnfreien Vergehen der Welt ist also (ausschließlich und allein) das Leben: als Gestalt gewinnendes, sich selbst reproduzierendes und immer komplexer differenzierendes Werden.

Physiker sehen das anders. Das Leben sei ein geordnetes Teil-System innerhalb eines Großsystems zunehmender Unordnung, schreibt Stephen Hawking. "Das Leben muß Energie, die in geordneter Form vorliegt - zum Beispiel Nahrung, Sonnenlicht oder elektrische Energie - in ungeordnete Energie in Form von Wärme umwandeln. Auf diese Weise erfüllt es die Bedingung, daß die Gesamtmenge der Unordnung zunimmt, während gleichzeitig die Ordnung in ihm selbst und in seinen Nachkommen anwächst."

Leben aber ist kein Teilsystem innerhalb eines Ganzen, sondern ein eigenes Ganzes gegenüber einem anderen, gegensätzlichen Ganzen. Wir können das Leben als ein Ganzes jedoch nicht verstehen und nicht beschreiben, weil wir Teil des Lebens sind und sich deshalb der dynamische Prozess, in dem es sich befindet, jedem Versuch unsrerseits, ihn zu Ende, zur Gänze zu denken, entzieht. Wir können die Möglichkeiten, die Potentiale des Lebens nicht hochrechnen, weil wir Teil der Rechnung sind. Über unser eigenes Potential wissen wir nichts. Es ist unauslotbar.

Entropie und Leben sind die beiden universalen Kräfte, deren Antagonismus alles Sein bestimmt.

Weil das Leben mit Hana einen so schönen Namen erhalten hat, sollte aus Gründen der Fairneß auch sein Kontrahent, die Entropie, aus ihrer graumäusigen Verhuschtheit in den Katakomben der Thermodynamik mit einem Nom de guerre, in voller Kriegsbemalung, ans Licht der Welt treten: Bi ist das japanische Wort für Feuer und symbolisiert den Tod. Jetzt wird die ganze  Dramatik des kosmischen Geschehens zum großartigen Spektakel: Hana-Bi bedeutet im Japanischen Feuerwerk - die Blume im Feuer, ästhetische Ordnung im Chaos, das Sinnvoll-Schöne in der Vernichtung.

 

These 8

Der Nationalstaat blockiert den Weg in die politische Moderne.  

Die 'Nation', eine Erfindung der romantisch-irrationalen Anti=Aufklärung, ist für die schrecklichsten Gewaltexzesse der Menschheitsgeschichte verantwortlich: 'Im Namen des Volkes' wurden Weltkriege geführt und Genozide verübt. Nationalisten, auch in patriotischer Tracht, sind Troglodyten, und ihr 'Vaterland' ist nichts anderes als eine in grotesker Hypertrophie aufgeschwollene Höhlengemeinschaft.

Nationalstaaten haben die Erdoberfläche bis zum letzten Quadratmeter parzelliert und unter sich aufgeteilt; mit einem Knebelnetzwerk von bi- und multilateralen Handelsverträgen ist es den militärisch-industriell überlegenen Staaten gelungen, ihre Dominanz so festzuzurren und ihren Vorsprung - befeuert vom turbokapitalistischen Treibsatz der totalen Ökonomisierung auch des privaten Lebens - so zu vergrößern, daß die Starken immer stärker und die Schwachen immer schwächer werden. Zugleich erodiert ihr inneres, demokratisch legitimiertes Ordnungssystem und ist mehr und mehr den Profitinteressen weltweit operierender Großkonzerne, Wirtschaftslobbies und Finanzsyndikate ausgeliefert.

Die wichtigste Voraussetzung für eine gerechtere Welt wäre daher eine radikal neue geopolitische Tektonik mit marmorglatter Rundung. Denn es sind die ökonomischen und sozialen Verwerfungen, die durch ihr über- und untereinander geschichtetes Gefüge die ständig neuen Eruptionen von Gewalt erst schaffen.

Erst wenn auf dem langwierigen, hoch=umständlichen Weg über immer umfassendere Wirtschafts-/Fiskal-Unionen und Staatsfusionen sämtliche als 'Nation' beflaggten Formationen ihre legislative, exekutive und judikative Souveränität an eine Weltregierung delegiert haben; wenn eine endlich erwachte Menschheit sich aus ihren tribalistischen, ideologischen, hegemonialen Drahtverhauen befreit hat und alle ein- und ausgrenzenden Kollektividentitäten zu einer einzigen humanen Identität zusammengefunden haben, die in allen Farben des kulturellen Regenbogens leuchtet; kann das mitfühlende Wissen um die symbiotische Einheit aller Lebewesen in einem einzigen irdischen Organismus - das gemeinsame Bewußtsein, der 'global mind' - entstehen.

 

 

These 9  

Im Universum existieren zahllose weitere Hanas.

 

Gäbe es nur eine einzige Hana pro Galaxis, wären es Milliarden. Sie müssen keinerlei Ähnlichkeit mit der irdischen Hana besitzen. Sie könnten aus anorganischem, spiralförmig angeordnetem kosmischen Staub entstanden, in einem Schlamm aus Kohlenwasserstoffen oder Phosphorsäuren auf chemo- oder photosynthetische oder auf eine andere denkbare oder nie gedachte Weise stoffwechselfähig geworden sein und sich dann als zusammenhängendes Ganzes weiter diversifiziert und ausgebreitet haben, ohne sich jemals kleinteilig zu individualisieren. Warum sollte so eine Grütze aus lebenbergenden Molekülen, sich kontinuierlich vernetzend und verdichtend, nicht irgendwann Synapsen und Botenstoffe entwickeln und im Laufe ihrer Evolution zu denken beginnen? Eine so homogene Zellensuppe hätte gegenüber der kleinteiligen Polymorphie des irdischen Lebens, gegenüber Hanas auf Konkurrenz gestelltem Outsourcing- und Franchise-System, einen riesigen Entwicklungsvorsprung: Sie müßte ihr Bewußtsein nicht aus einer Unendlichkeit zersprengter Einzelbewußtheiten zusammenpuzzeln, sondern nur wachsen und sich ausbilden. Der Grundkonflikt terrestrischen Lebens - gemeinsames Sein gegen einsames Bewußtsein - würde gar nicht erst auftauchen.

Aber wie schutzlos wäre eine solche Hana den Kataklysmen ihres Heimatplaneten ausgesetzt, wie hilflos wäre sie jedem Angriff durch Bi ausgeliefert! Außerdem fragt sich, woher ein in sich vollkommen homogener Biotop die Dynamik nehmen sollte, um über sich hinaus zu expandieren, nach außen zu kommunizieren (uns Erdlinge könnte er nur als Blop besuchen).

Eine aus den Überlebenskämpfen ihrer Einzelzellen, aus dem Dunkel ihrer chaotischen Genese zum Bewußtsein erwachte Hana dagegen wird sofort damit beginnen, auf extraterrestrischem Gelände ihre Eier zu legen und die kosmische Nachbarschaft zu kolonisieren. Eine conditio sine qua non: Ohne Expansion muß jede Lebensform früher oder später verkümmern und absterben. Einen überdauernden Status in ipso gibt es auch für das Leben nicht.

Wir dürfen daher auf eine gewisse Artverwandtschaft unter vielen Hanas hoffen. Wenn es dann irgendwo irgendwann zu einem Kontakt kommen sollte, ist eine Solidaritätsbotschaft - das Wissen um den gemeinsamen Feind Bi ist im späten 'Irgendwann' gesichert - wahrscheinlicher als eine Kriegserklärung.

 

 

These 10

 

Neben Freiheit und Gerechtigkeit ist Gott die dritte große Idee der Menschheit. Aber wir suchen ihn am falschen Ende der Zeit.

 

Jeder Versuch, Gottes objektive Existenz als denknotwendig logisch abzuleiten (von Augustinus über Anselm von Canterbury und Thomas von Aquin bis hin zu Kurt Gödel) endet im sinnleeren Zirkelschluß. Der Grund ist simpel: Ein Gott, der sich beweisen läßt, ist kein Gott.

Unsere Vorstellung von Gott ist eine Projektion ins Unendliche, die in keiner Ebene der Wirklichkeit ein Bild zurückwirft.

In keiner räumlichen Ebene. Aber vielleicht in einer zeitlichen, eschatologischen?

Dann wäre Gott die Entelechie des Lebens und stünde nicht am Anfang, sondern am Ende aller Zeit. Die zentrale Botschaft der monotheistischen Religionen wäre dann Weissagung, Prophetie, Verheissung. Wir müßten diese Mythen nur andersherum träumen: Gott hätte nichts geschaffen, sondern wäre selbst Sinn und Ziel der lebendigen Schöpfung. Er wäre so etwas Ähnliches wie ein gemeinsames Bewußtsein aller Hanas im Universum: allmächtig, allwissend, allgegenwärtig. In ihm wäre alles, was jemals gelebt hat, für immer aufgehoben.

Den Hanas wird nichts geschenkt. Auch den Gott, von dem sie träumen, müssen sie selbst zur Welt bringen.

 

 

 

 

Copyright:  MÄRZfilm Peter Leippe, Berlin 2015.